Handscheue Zeiten

Es gibt Tage,
da empfindest du
einen bloßen Handschlag oder
einen etwas festeren Händedruck oder auch
ein ausgiebiges Händeschütteln
bereits als körperliche Gewalt.

Es gibt Tage,
da deutest du
jedes Handzeichen
als persönliche Beleidigung.
Jeder Handgriff
wird zur Handgreiflichkeit.

An diesen Tagen
bist du einfach
zu empfindlich gegenüber
dem allzu Handfesten,
dem allzu Handlichen,
dem allzu Handhabbaren.

Da würdest du am liebsten
im Handumdrehen
verschwinden oder
mit einem Handstreich
alles verschwinden lassen.

An diesen Tagen bist du
keine Handbreit bereit
zu handeln.
An Tagen wie diesen bist du
handlungsunfähig –
und verabschiedest dich deshalb
– scheinbar ganz handzahm –
mit einem Handkuss
von jeglicher Handarbeit.

Funkstille

Endlich Stille.
Funkstille.
Funkenstille.

Endlich vorbei der
Funkenflug.
Endlich vorbei der
Funkenregen.
Endlich vorbei der
Funkenhagel.

Endlich nicht mehr im
Funkensturm.
Endlich im
Funkschatten.

Kein Funke sprang
über. Trotzdem
brannte es
überall.

Von meinem Funkturm
funkte ich
Funkzeichen,
Funkspruch über Funkspruch.
Doch wir funkten
auf verschiedenen Funkwellen.

Nur eine Funzel
bringt jetzt noch Licht
in die funkelnde Stille.
Endlich Stille.
Funkstille.

Und in mir wieder
ein Funken Leben.

geschrieben nach der Lektüre der Bücher “Funkstille. Wenn Menschen den Kontakt abbrechen” und “Der Sturm vor der Stille. Warum Menschen den Kontakt abbrechen” von Tina Soliman, die mir gerade sehr helfen, den späten, aber wohl unumgänglichen Kontaktabbruch zu meinen Eltern zu verarbeiten

Metamorphosen

Wem man
die Flügel stutzt,
kann nicht mehr
fliegen.
So lernte ich laufen.

Wem man
die Wurzeln abhackt,
kann nicht mehr
wachsen.
So lernte ich klettern.

Wem man
die Luft abschnürt,
kann nicht mehr
atmen.
So lernte ich tauchen.

Wem man
die Augen aussticht,
kann nicht mehr
sehen.
So lernte ich fühlen.

Wem man
die Hände bindet,
kann nicht mehr
greifen.
So lernte ich denken.

Wem man
das Maul stopft,
kann nicht mehr
sprechen.
So lernte ich schreiben.

Wem man
die Liebe versagt,
kann nicht
leben.
So lernte ich lieben.

Mein Blaues Lied

für Ahmad Schamlu, eine Art Antwort

Mit meinem Blau
male ich Sterne

in das Blaue vom Himmel.

Mit meinem Blau
schreibe ich ins Blaue.
Ein Meer von blauen Gedanken.
Die Farbe
der Tinte ist königsblau.

Das Blau war außer sich vor Freude
Als wir geboren wurden.

O Blau der Welt!
Der blaue Vogel deines Auges

sucht noch immer die Blaue Blume.

Ein blauer Augenblick ist nun mehr Seele.

O Blau der Welt!
Der blaue Vogel deines Auges
sucht noch immer das blaue Wunder.

Ein blauer Tag. Blaue Stunde:
Mein blaues Klavier
spielt mein Blaues Lied.

Mir ist in solchen linden blauen Tagen,
als ob wir
mit einem blauen Auge
plötzlich sehen

daß Jahre später
          Heimat bedeutet
ein schimmerndes Blau.

Dieses Gedicht ist eine Collage aus Texten von

  • Rose Ausländer, Verwandelt
  • Heinrich Heine, Mit deinen blauen Augen
  • Rolf Dieter Brinkmann, Von der Gegenständlichkeit eines Gedichts
  • Elisabeth Borchers, Nerudas Blau
  • Paul Celan, O Blau der Welt
  • Yvan Goll, Der blaue Vogel deines Auges
  • Novalis, Die blaue Blume
  • Ernst Trakl, Kindheit
  • Hilde Domin, Ein blauer Tag
  • Stefan George, Blaue Stunde
  • Else Lasker-Schüler, Mein blaues Klavier
  • Joseph von Eichendorff, Was wollen mir vertraun die blauen Weiten
  • Ahmad Schamlu, Blaues Lied

Bis auf Novalis und Ahmad Shamlu sind alle Gedichte zu finden in: Blaue Gedichte. Hrsg. von Gabriele Sander. Stuttgart 2001, 2012. (Reclams Universal-Bibliothek 18925). Novalis’ ‘Die blaue Blume’ ist Teil seines Romanfragmentes ‘Heinrich von Ofterdingen’. Ahmad Schamlus Gedicht ‘Blaues Lied’ findet man in dem gleichnamigen zweisprachigen Gedichtband, übersetzt von Farhad Showghi.

Schmerztagebuch

Donnerstagmorgen: klopft er noch höflich an
Donnerstagmittag: klopft und klopft und klopft er
Donnerstagabend: hat er mich schon weich geklopft

Freitagmorgen: pocht er stumpf und dumpf
Freitagmittag: pocht er bestimmt auf sein Recht
Freitagabend: pocht und pocht und pocht er

Samstagmorgen: beißt er mich
Samstagmittag: beißt er sich durch mich durch
Samstagsabend: hat er mich kurz und klein gebissen

Sonntagmorgen: sticht und sticht und sticht er
Sonntagmittag: sticht und sticht und sticht er
Sonntagabend: hat er mich zu Boden gestochen

Montagmorgen: zwickt er mich
Montagmittag: zwickt und zwackt er mich
Montagabend: zwickt er mich hier und zwackt er mich dort

Dienstagmorgen: hämmert er mich wach
Dienstagmittag: hämmert er weiter und weiter
Dienstagabend: hämmert und hämmert und hämmert er

Mittwochmorgen: beginnt er zu brennen
Mittwochmittag: brennt er lichterloh
Mittwochabend: brennt er mich nieder

wieder Donnerstagmorgen: wieder klopft er