Morgensterns Schnecke

Danke, liebe Gerda, Deine Erinnerung an Morgensterns Schneckengedicht hat mich wieder ins Dichten gebracht …

lang hat die Schnecke nachgedacht –
und schließlich hat sie es gemacht:
verlassen hat sie nun ihr schützend‘ Haus
und kriecht und kriecht ganz weit hinaus.

leicht fühlt es sich auf ihrem Rücken an;
sie denkt: fängt jetzt das Leben an?
doch andererseits (ich muss es sagen)
beginnt sie bald doch laut zu klagen.

nackt ist sie jetzt – und heimatlos –
und denkt: was hab ich mir gedacht da bloß?

kein Raum für Poesie

traurig bin ich,
schau ich aus mir hinaus:
nur Leid, nur Tod
und Krieg und Not –
die Unvernunft hat jetzt die Oberhand;
alles gar scheint außer Rand und Band:
laut spricht nur sie, die Sprache der Gewalt –
kein Raum für Poesie

traurig bin ich,
schau ich in mich herein:
nur Ach, nur Weh
und keine Idee –
die Hilflosigkeit hat jetzt die Oberhand;
gibt es doch nur noch Wand um Wand:
laut spricht nur sie, die Sprache der Angst –
kein Raum für Poesie

Mathematik des Krieges

Krieg addiert:
Tote um Tote und Versehrte

Krieg addiert:
Waffen und scheinbare Werte

Krieg subtrahiert:
Leben von blühender Jugend

Krieg subtrahiert:
Moral von politischer Tugend

Krieg multipliziert:
Schmerz mal Leid

Krieg multipliziert:
Gewinn mal Neid

Krieg dividiert:
Freunde durch Haltung

Krieg dividiert:
Risiko durch Spaltung

Krieg potenziert:
immer Krieg, niemals Frieden

Denk ich an Deutschland

Reminiszenz an Heinrich Heine

Denk ich an Deutschland in der Nacht,
Dann bin ich um den Schlaf gebracht.


Denk ich an Deutschland mitten am Tag,
Dann fühl ich nur Leid, Angst und Plag.

Denk ich an Deutschland am frühen Morgen,
Dann bin erfüllt ich von Kummer und Sorgen.

Denk ich an Deutschland am späten Abend,
Dann möchte Reißaus nehmen ich – trabend.

丹頂鶴. Ein Kranich-Haiku

In dieses Künstlerbuch mit dem Titel „The Red-Crowned Crane & The End of the World“ von Peter Granser mit Texten von Mari Kashiwagi habe ich mich total verliebt, insbesondere die auf das Wesentliche reduzierten Fotografien der Kraniche, die auf den ersten Blick wie Tusche-Kleckse, auf den zweiten Blick wie Schriftzeichen anmuten, haben es mir sehr angetan. Das Leporello-Buch ist erschienen bei der Edition Taube (dort noch mehr Bilder vom Buch zum Durchblättern) und ist derzeit ausgestellt im Rahmen der auch sonst sehr inspirierenden Ausstellung „Die Welt im Fluss. Über Bewegtes und Vergängliches in der Japanischen Kunst“ im Museum Angewandte Kunst Frankfurt.

mit Kranichzeichen
ans weiße Ende der Welt
zur Stille von Schnee