ein prokrastinierendes Gedicht

für Fabio, der mich mit seinem aktuellen Post zu diesem Gedicht angeregt hat

bevor ich dieses Gedicht
schreiben kann, brauche ich
erst noch eine gute Idee

und bevor ich eine gute Idee
habe, muss ich mich erst noch
ein bisschen inspirieren lassen

und bevor ich mich inspirieren
lassen kann, muss ich erst noch
frische Luft schnappen gehen

doch bevor ich an die frische Luft
gehen kann, muss ich erst noch
einen Happen essen

aber davor muss ich noch

(ich schreib es morgen)

Herbst 2024

die alte Saat ist wieder aufgegangen; und so
ist denn wieder Erntezeit in diesem Land, wo
„gesichert rechtsextrem“ inzwischen eher
eine Wahlempfehlung scheint, „Remigration“
plötzlich wie ganz selbstverständlich
auf der Tagesordnung steht und
die Forderung nach „Kriegstüchtigkeit“
Beliebtheitswerte in die Höhe schießen lässt

sagt mir nur eins:
wo finde ich die Disteln?

Birke im Wind

Birke, was will es mir zeigen:
dein Neigen, dein Schweigen, nein: Wispern?
dein Rauschen, dein Biegen, dein Wiegen?
dein dennoch Aufrecht-Bleiben?

Wind, was will es mir sagen:
dein Jagen, dein Plagen, nein: Bauschen?
dein Knistern, dein Sausen, dein Brausen?
dein dennoch Mit-Liebe-Laben?

aus Birke und Wind aber einmütig spricht‘s:
nichts

ABCdarium der Möglichkeiten

am Tag nach dem 01.09.2024 (ein Listengedicht nach Stachelbeermond)

Auswandern (aber wohin?)
Beten (keine Option für Atheist:innen)
Cool bleiben (möglich?)
Durchhalten (aber wie lange?)
Ein gezieltes Attentat (oder mehrere?)
Flucht (nach vorn, wenn schon)
Gärtnern (ohne Garten?)
Hoffen (worauf?)
Innere Emigration (wirklich?)
Jagen (ja, mit gleicher Münze zurück!)
Kiffen (keine Option für Nichtraucher:innen)
Likör trinken (bis dir schlecht wird, ist mir schon)
Mama anrufen (wird nicht helfen)
Nichts machen (wird auch nicht helfen)
Ordnung im Kopf schaffen (hilft? vielleicht!)
Pfannkuchen backen (ändert nix, aber schmeckt!)
Quatsch dichten (= weitermachen wie bisher?)
Rebellieren (jetzt erst recht!)
Selbstmord (echt jetzt?)
Träume verteidigen (ja!)
Uns organisieren (aber wer ist wir?)
Verstecke suchen (großflächig)
Widerstand (aber wie?)
X Lösungen überlegen (oder noch mehr!)
Yoga (hilft – fast – immer)
Zaubern (wenn ich’s denn könnte!)

und wieder

Ich kann euch in diesen Zeiten den Roman „Der Kopflohn“ von Anna Seghers nur empfehlen – hier findet ihr eine sehr instruktive Kostprobe.

und wieder rollen die Lastautos
über die Dörfer und wieder hört
man die (inzwischen verbotenen)
Heilrufe und wieder kann man die
(inzwischen ebenfalls verbotenen)
Hakenkreuzfahnen wehen sehen
und wieder gewinnen die Nazis
die Wahlen –

sollten wir diesmal
nicht klüger sein?

was siehst du?

(keine gute Aufnahme, ich weiß – verzeiht!)

Sieht man wirklich nur, was man weiß?
Weiß man überhaupt, was man sieht?

schau hin: was siehst du?
siehst du, wie sich die Otter
(oder sind es gar Lemminge?)
in Scharen einer nach dem anderen
kopfüber ins Wasser stürzen?

oder siehst du nur, wie sich
die alte krummgewachsene Birke
auf der sich wellenden Oberfläche
des grünen Sees spiegelt? –
schau hin: was siehst du?

das Grübel-Übel

eine kleine Grübelei
zum 5. Mai

ich grüble gern so für mich hin,
so hin und her und her und hin
und durchgrabe in Gedanken
nur Gedanken um Gedanken.

ich habe wohl – wie übel! –
einen Dübel im Oberstübel!

ich grübel hin, ich grübel her
und lebe nur noch in Gedanken,
ja, in Schranken aus Gedanken:
Zeit zum Leben bleibt nicht mehr.

und ich denk: all das üble Gegrüble
wird bringen bald mich noch ins Grüble!