wir ziehen Schlüsse
bevor wir ergründen
wir fällen Urteile
bevor wir verstehen
wir schreiten zur Tat
bevor wir wissen
wir ziehen Schlüsse
bevor wir ergründen
wir fällen Urteile
bevor wir verstehen
wir schreiten zur Tat
bevor wir wissen
für Eulenschwinge – inspiriert vom Titel zu Deinem Eisvogel-Bild
Zeig mir bitte den Vogel,
den du abgeschossen hast.
Ach, wie gern möcht auch ich
einen Vogel haben.
***
Oder doch lieber in der reflexiven Variante:
Ich zeig mir den Vogel,
den ich abgeschossen habe
und frage mich: Willst du auch
einen Vogel haben?
Pack mich in Watte. Lull mich ein.
Wiege mich in Sicherheit.
Schirm mich ab von allem Bösen.
Streu mir Sand in die Augen.
Besser noch: Steck meinen Kopf in den Sand.
Schließ mich ein in mein Wolkenkuckucksheim.
Verschanz mich in meinem Elfenbeinturm.
Lock mich hinter den Ofen. Halte mich schön warm.
Bette mich auf Wolken. Deck mich zu
mit Märchen aus einer besseren Welt.
Gaukle mir ein Stück heile Welt vor.
Lüg mir in die Tasche. Und schenk
mir unreinen Wein ein.
Manchmal möchte ich einfach nur
unbehelligt bleiben.
Dafür nehme ich gern
etwas Dunkelheit in Kauf.
für Aleppo und die vielen anderen Orte des Grauens
die gebliebenen
beneiden die geflohenen
die geflohenen wünschen
geblieben zu sein
die verwundeten
beneiden die toten
die toten wünschen
nie geboren zu sein
die neugeborenen
beneiden die ungeborenen
die ungeborenen wünschen
nie geboren zu werden
die lebenden
beneidet niemand mehr
die sterbenden wünschen
nur noch tot zu sein
auf frieden hofft
hier niemand mehr
Der Satz in den Nachrichten “Die Verwundeten beneiden die Toten” hat mich aus meiner Sprachlosigkeit geholt.
Kein Wunder,
wenn du da unten
nicht mehr weißt,
wo vorn, wo hinten ist,
wenn es dir
hinten und vorn nicht reicht,
während es denen da oben
vorn und hinten reingesteckt wird.
Kein Wunder,
dass du da hinten
die Welt derer da vorn
nur noch
von hinten sehen kannst.
Wir sollten vielleicht noch einmal
von vorn anfangen.
Eine Pantun-Variation von Heinrich von Morungen
ich bin iemer der ander
niht der eine
ich bin iemer ander
und niht eine
niht der eine
bin ich iemer eine
und niht eine
und niht eine
ich bin iemer eine
ich bin iemer ander
und niht eine
ich bin iemer der ander
Das Pantun gehört für mich zu den großen Entdeckungen beim #frapalymo diesen November. Etwas freier gehandhabt scheint es mir die passende Form zu sein für einen Satz Heinrichs von Morungen (Lied XI, MF 131,25), den die Handschriften in drei Varianten überliefern: “Ich bin iemer der ander, niht der eine” (wird übersetzt mit: ‘Ich bin immer der zweite, nicht der einzige’), “Ich bin iemer ander und niht eine” (wird übersetzt mit: ‘Ich bin immer zu zweit und nicht allein’) und “Ich bin iemer eine und niht eine” (könnte man übersetzen mit: ‘Ich bin immer allein und nicht der einzige’). Aber das Sinnspiel mit “ander” (‘der zweite’, ‘einer von zweien’, ‘der andere’, ‘der nächste’) und “eine” (‘der eine’, ‘der einzige’, ‘allein’) geht meines Erachtens noch viel tiefer… – insofern ist es leider nicht wirklich übersetzbar.
Ein Haiku von Meister Frauenlob
Ich suchte mich, da
vant ich min da heime nicht.
lip, wa was ich do?
Verse aus der dritten Strophe aus Lied 6 von Heinrich von Meißen, genannt Frauenlob (GA XIV,28), neu verfugt zu einem Haiku – ist das nicht ein verblüffend moderner Gedanke am Ende des 13. Jahrhunderts?
Worthilfen: vant = fand; min – wörtlich: meiner, d.h. etwas von mir; da heime = daheim; lip = Leib, Leben; wa = wo; was = war; do = da, damals
Hier meine Übersetzung, die Form wahrend:
Ich suchte mich, da
fand ich nichts von mir zuhaus.
Leib, wo war ich da?
Ein inverses Tanka von Walther von der Vogelweide
Owê, war sint verswunden
alliu mîniu jâr?
ist mîn leben getroumet
oder ist ez wâr?
iemer mê ouwê!
Walther von der Vogelweide wäre nicht Walther von der Vogelweide, würde er sich an Regeln halten. Und so ist sein Tanka nicht nach dem traditionellen Muster 5-7-5 7-7 gebaut, sondern invers: 7-5-7 5-5. Die Verse sind dem Eingang seiner sog. ‘Elegie’ (L. 124,1) entnommen, kombiniert mit dem Refrain, wobei ich nur ein wenig eingreifen musste, um die erforderliche Silbenzahl zu erhalten. Hier meine Übersetzung, die die Form zu bewahren sucht:
Ach, wohin sind verschwunden
all meine Jahre?
Ist mir mein Leben geträumtoder ist es wahr?
Ach, für immer ach!Diese Tanka-Variation eröffnet eine kleine Dreierreihe, für die ich Verse gewählt habe, die mich immer schon angesprungen, umgehauen und eingenommen haben.
valken
ich gezamete,
starc, schoene, wilde:
vlouc in anderiu lant –
got!
Und zum Abschluss der kleinen Trilogie noch ein Elfchen: diesmal mit Material aus des Kürenbergers Falkenlied (MF 8,33). Hineingemogelt habe ich außerdem drei Adjektive aus Kriemhilds Falkentraum aus dem Nibelungenlied 🙂
Worthilfen: gezamete = zähmte; vlouc in anderiu lant = (ent)flog in andere Länder
ich tuon sam der swan,
der singet swenn’ er stirbet:
ein swinendes fro
Und weiter geht es mit “Minnesangs Vögeln”: Dieses Haiku verarbeitet das Bild vom Schwan, der immer dann singt, wenn er stirbt. Dieses Bild findet sich sowohl bei Heinrich von Morungen (MF 139,15-18; Venuslied) als auch bei Frauenlob (GA Lied 4, Strophe XIV,9). Der letzte Vers stammt von Frauenlob und bedeutet ‘ein dahinschwindendes Froh’.
nahtegal
schône sanc
under der linden
dâ unser zweier bette –
tandaradei
Die Idee, eigene kleine Texte mit dem Sprachmaterial mittelhochdeutscher Minnelieder zu machen, kam über einen Impuls von ‘Frau Paulchens Lyrischem Monat’. Nach “Minnesangs Farben” (die unmittelbar aus dem Impuls entwickelt wurden) habe ich mir nun die minnesängerische Vogelwelt vorgenommen. Als erstes habe ich das berühmte ‚Lindenlied‘ Walthers von der Vogelweide (L. 39,11) auf ein Elfchen reduziert…
Worthilfen: schône = auf schöne Weise; dâ = wo / dort; tandaradei = Interjektion, den Ruf der Nachtigall nachahmend