Herbst 25

es wäre wieder die Zeit: Goldlichtverse
auf fallende Blätter schreiben, Igelworte
unter raschelndem Laub verstecken und
in Nebelsätzen über Felder huschen
und Kastanienreime sammeln

wenn da nicht wären: düstere Wehrlyrik,
die täglich in unsere Köpfe fällt, Hetzworte
über rauschende Bildschirme, unverhohlen,
jeder Absatz marschtrittfeste Feldeuphorie
und geballte Kriegspropaganda

Wissen Meinen Handeln

wir haben noch kein klares Wissen
aber wir haben schon eine Meinung
(und nur noch diese eine Meinung)
wir verstehen die Welt zwar nicht
aber wir verstehen es die Meinung
zu einer unumkehrbaren Handlung
zu machen: wissen wir was wir tun?

ein Teil von uns wird es wissen:
meinen so handeln zu müssen
weil Handeln
ihr einziges Meinen
ihr einziges Wissen ist

wir anderen sollten uns besinnen:
sollten wir nicht erst wissen wollen
bevor wir meinen?
bevor wir handeln?

bevor wir uns verführen lassen
für ihren Handel unser Leben
zu geben?

kein Raum für Poesie

traurig bin ich,
schau ich aus mir hinaus:
nur Leid, nur Tod
und Krieg und Not –
die Unvernunft hat jetzt die Oberhand;
alles gar scheint außer Rand und Band:
laut spricht nur sie, die Sprache der Gewalt –
kein Raum für Poesie

traurig bin ich,
schau ich in mich herein:
nur Ach, nur Weh
und keine Idee –
die Hilflosigkeit hat jetzt die Oberhand;
gibt es doch nur noch Wand um Wand:
laut spricht nur sie, die Sprache der Angst –
kein Raum für Poesie

ihre Namen

Vergangenen Sonntag hatte ich die Gelegenheit, im Staatstheater Wiesbaden das Stück „an grenzen“ von Özlem Özgül Dündar zu sehen – ein Stück, das mit großer sprachlicher Sensibilität nicht nur ein Stück Migrant:innengeschichte in Deutschland beleuchtet, sondern auch der Opfer von rechter Gewalt insgesamt gedenkt – und dabei versucht, Möglichkeiten eines neuen Miteinanders auszuloten. Als Hörpiel ist der Text (wenn auch in einer anderen Fassung) in der WDR-Mediathek abrufbar. Unter dem Eindruck dieses Theaterstücks ist nun mein Text entstanden.


wir sagen ihre Namen
um an sie zu erinnern
wir sagen ihre Namen
um ihrer zu gedenken
wir sagen ihre Namen
um sie uns einzuprägen
wir sagen ihre Namen
um sie in uns zu bewahren
wir sagen ihre Namen
um uns selbst zu ermahnen
wir sagen ihre Namen
um es nie wieder zu vergessen
wir sagen ihre Namen
und wir vergessen nicht die Namenlosen
wir sagen ihre Namen
und wir vergessen nicht den Ort und die Zeit
wir sagen ihre Namen
wir sagen ihre Namen

ach, hätten wir doch ihre Namen
noch zu ihren Lebzeiten
schon zu ihnen gesagt

Denk ich an Deutschland

Reminiszenz an Heinrich Heine

Denk ich an Deutschland in der Nacht,
Dann bin ich um den Schlaf gebracht.


Denk ich an Deutschland mitten am Tag,
Dann fühl ich nur Leid, Angst und Plag.

Denk ich an Deutschland am frühen Morgen,
Dann bin erfüllt ich von Kummer und Sorgen.

Denk ich an Deutschland am späten Abend,
Dann möchte Reißaus nehmen ich – trabend.

verZWEIFEL!

ich zweifle:
was Grundrecht hieß –
ist es euch zweierlei?

ich zweifle an:
was Ehrlichkeit hieß –
wie zweizüngig seid ihr!

ich bezweifle:
was Kompetenz hieß –
sät Zwietracht nur?

ich verzweifle:
was Vernunft, was Menschlichkeit hieß –
es ist entzwei!

ich zähle zwei und zwei zusammen –
und hab am Ende doch nur ein Ergebnis:

ZWEIFEL und VERZWEIFLUNG

Wurmsegen

Gang uz, nesso, möcht ich singen:
Gang uz, Wurm, und nimm bitte
all deine vermaledeiten Würmchen mit:
uz fonna marge in die Adern,
uz aus den Köpfen und den Herzen,
uz aus unserer schönen Welt
ins Wohinauchimmer: uz, uz, uz!
drei Vaterunser (fürchte ich)
werden nicht helfen

ach! – wo nur
ist dieser Zauberspruch, der
alles wieder heile macht?

Das althochdeutsche Vorbild findet ihr hier: https://de.m.wikisource.org/wiki/Pro_Nessia