Für Leser jedweder Lesart

Ich schreibe nicht nur für
erlesene Belesene oder gar
eine Auslese handverlesener Leser.

Ich schreibe für
Lesestarke und Leseschwache,
Lesereiche und Lesearme,
Lesefleißige und Lesefaule,
Lesehungrige und Lesesatte,
Lesemutige und Lesescheue,
Leselustige und Lesemüde,
Lesekundige und Leseneue.

Ich schreibe für
Vor- und Nachleser,
Auf- und Ableser,
Ein- und Ausleser,
Miss- und Verleser,
Rauf- und Runterleser,
Drunter- und Drüberleser,
Kreuz- und Querleser,
Viel- und Wenig- und sogar für
Nichtleser.

Kurz: Ich schreibe für
Leser jedweder Lesart.

Wir sollten trauern

Wir sollten trauern
um die Toten

und nicht
die Toten
zum Argument machen für
liberté, égalité, fraternité

Wir sollten trauern
um die Toten

und nicht
im Namen der Toten
liberté, égalité, fraternité
heucheln

Wir sollten trauern
um die Toten

und nicht
so tun, als ob
wir die Toten seien
(was wir nie waren
und nicht sind)

Wir sollten trauern.

Hymne auf das Wörterbuch

Das liebste Buch
ist mir das
Wörterbuch.

Es nennt
die Wörter
bei ihrem Namen.

Es sieht
den Wörtern
ins Gesicht.

Es kennt
der Wörter
Her- und Zukunft.

Es spricht
der Wörter
Sprache

und denkt
ein jedes Wort
zu Ende.

Es fasst
ein jedes Wort
in das ihm eigene Gefäß.

Es setzt
ein jedes Wort
in den ihm eigenen Satz.

Es träumt
die Wörter
zu Gedichten und Geschichten

und lässt doch
die Wörter
Wörter sein,

indem es
Wort und Sache
trennt

und für jedes seiner Wörter
in gleichem Maße
brennt.

Unterschiede

Es ist ein Unterschied,
ob ich einen Reim auf die Welt finde oder
ob ich mir einen Reim auf die Welt mache oder
ob ich mir die Welt zusammenreime.

Es ist auch ein Unterschied,
ob ich der Welt das Wort gebe oder
ob ich der Welt das Wort rede oder
ob ich der Welt das Wort aus dem Mund nehme.

Und es ist auch ein Unterschied,
ob ich der Welt ein Lied singen mag oder
ob ich von der Welt ein Lied zu singen weiß oder
ob ich von der Welt immer nur das alte Lied singen kann.

Handscheue Zeiten

Es gibt Tage,
da empfindest du
einen bloßen Handschlag oder
einen etwas festeren Händedruck oder auch
ein ausgiebiges Händeschütteln
bereits als körperliche Gewalt.

Es gibt Tage,
da deutest du
jedes Handzeichen
als persönliche Beleidigung.
Jeder Handgriff
wird zur Handgreiflichkeit.

An diesen Tagen
bist du einfach
zu empfindlich gegenüber
dem allzu Handfesten,
dem allzu Handlichen,
dem allzu Handhabbaren.

Da würdest du am liebsten
im Handumdrehen
verschwinden oder
mit einem Handstreich
alles verschwinden lassen.

An diesen Tagen bist du
keine Handbreit bereit
zu handeln.
An Tagen wie diesen bist du
handlungsunfähig –
und verabschiedest dich deshalb
– scheinbar ganz handzahm –
mit einem Handkuss
von jeglicher Handarbeit.

An die Uneinsichtigen

Wer sich selbst und andere kennt,
Wird auch hier erkennen:
Orient und Okzident
Sind nicht mehr zu trennen.
(Johann Wolfgang Goethe, West-Östlicher Divan)

Das Abendland rettet
nur, wer auch ein Herz für
Das Morgenland hat.

***

Eigentlich mache ich das nicht in meinem Blog, aber bei diesem Thema muss ich doch einladen, diesen Aufruf zu unterstützen: Für ein buntes Deutschland.