Lyrifants erste abc-Etüde


Diese drei Wörter aus der Schreibeinladung von Christiane haben Lyrifant nicht mehr losgelassen, und so begibt sich Lyrifant jetzt auf ganz ungewohntes Terrain: Lyrifant als Prosafant, sozusagen …

Es muss kurz nach dem Abendbrot gewesen sein. Hatte sie da nicht gerade etwas aus der Küche gehört? So als ob jemand mit dem Geschirr hantierte? Aber das kann doch gar nicht sein! dachte sie, sie wohnte doch schon seit Jahren alleine in der Wohnung! Na, ausgezeichnet! dachte sie, ist es jetzt schon soweit? Werde ich jetzt verrückt? Sie stand auf, entschlossen, und ging in die Küche. Und tatsächlich! Da stand – tja, wie sollte sie es nennen? – so ein Wesen am Spülstein. Merkwürdig: Kein Mensch. Kein Tier. Kein Ding. Wohnte das jetzt hier? In ihrer Wohnung? Und sie begann, sich auf einmal unendlich heimatlos zu fühlen.

Prosa in Rosa (10)

Sie hatte sich verschiedene Listen besorgt: Einkaufs-, Telefon-, Teilnehmer- und Gästelisten, Zug- und Busfahrpläne, Speise- und Getränkekarten, Kassenzettel und anderes mehr. Mit einem eigens dafür gekauften Lineal und einem nigelnagelneuen Filzstift in frischem Rosa begann sie nun, einzelne Posten sorgfältig von diesen Listen zu streichen. Und unter die Listen schrieb sie mit Textmarker in Neonpink:

“Vorsicht! Frisch gestrichen!”

Prosa in Rosa (9)

Sehr lange hatte sie nun an einem Gerät gebastelt, das es ihr ermöglichte, für jeden Baustoff die ihm eigenen Strukturen zu ermitteln und diese in Form eines rosa Netzes auf ihn zu projizieren. Damit konnte sie nun ganz erleichtert in jedes Amt gehen und musste nicht mehr fürchten, des Ungehorsams bezichtigt zu werden; denn nun war es für sie endlich möglich, der Aufforderung an den diversen Türen tatsächlich Folge zu leisten:

„Bitte einzeln eintreten!“

Prosa in Rosa (8)

Aus den Tiefen ihrer Schubladen hatte sie nun doch wieder ihr Kirschblüten-Briefpapier hervorgekramt und schrieb nun viele lange Briefe, in denen sie umfassend Antwort gab auf die großen philosophischen Fragen der Menschheit nach dem Woher, Wohin und Warum – und sie erklärte die Welt in jedem Brief ein wenig anders (denn nichts erfreute ihr Herz mehr als Variation). Nun konnte die nächste Einladung kommen, und sie war vorbereitet auf diesen einen obligatorischen Satz:

“Um Antwort wird gebeten.”

Prosa in Rosa (7)

Sie hatte nun immer, wenn sie in den Park ging, eine gut mit Wasser gefüllte pinkfarbene Metallgießkanne bei sich; und in ihren blassrosa Rucksack hatte sie ihre alten rosaroten Schlittschuhe gepackt, dazu ein Kältespray. Denn sie hielt sich gern an Gesetze, so auch an die Regel, die immer auf den Parkschildern zu lesen ist:

“Rasen betreten verboten!”

Prosa in Rosa (6)

Nach reiflicher Überlegung hatte sie es endlich gekauft: das schicke Smartphone in Roségold. Und einen ganzen Nachmittag lang hatte sie nun fleißig die Telefonnummern von Apotheken und Ärzten aus der näheren Umgebung in ihr Handy-Telefonbuch eingegeben. Denn nun konnte sie immer sofort tätig werden, wenn es wieder hieß:

“Zu Risiken und Nebenwirkungen fragen Sie Ihren Arzt oder Ihren Apotheker.”

Prosa in Rosa (3)

Auf Fernreisen hatte sie nun immer im Portemonnaie ein kleines Musterbüchlein bei sich, das eine Auswahl ihrer Lieblingspapiere (noch dazu in ihren Lieblingsfarben) enthielt wie etwa handgeschöpftes Bütten in Wild- und Heckenrose, Elefantenhaut in Sandstein, Seiden- und Japanpapiere in Lachs, Flamingo und Schwein. Denn sie wollte gewappnet sein für den Fall, dass man sie an der Grenze aufforderte:

“Ihre Papiere, bitte!”

Prosa in Rosa (2)

In ihrer Handtasche führte sie nun immer auch eine kleine verschließbare rosarote Schachtel mit sich mit. Sie hatte darin viele rosa Zettelchen gesammelt, auf denen große und kleine, erfüllbare und unerfüllbare Wünsche notiert waren, auf dass sie nie mehr in Verlegenheit geriete, wenn man sie an der Ladentheke oder im Café fragen würde:

“Haben Sie noch einen Wunsch?”