Luftwurzeln

Neue Wurzeln
wollte ich Dir geben
in meiner Erde.

Meine Erde aber hat
Deine Wurzeln
nicht aufgenommen.

Meine Erde hat dafür
meine Wurzeln
abgestoßen.

So hängen nun
Deine Wurzeln und
meine Wurzeln
in der Luft –
frei von Deiner Erde,
frei von meiner Erde.

So sind nun
Deine Wurzeln und
meine Wurzeln
Luftwurzeln,
die Halt finden,
indem sie einander umschlingen.

Inspiriert ist dieses Gedicht von der Bezeichnung “LuftwurzelLiteratur”, in die der sujet-Verlag die Exil-Literatur programmatisch umbenannt hat – ein Wort, das mich unmittelbar angesprungen hat, auch wenn es erst noch etwas in mir arbeiten musste, bis ich zu diesem Gedicht fand.

Geschlossene Gesellschaft

„Geschlossene Gesellschaft!“
Ja, wir feiern Party, unentwegt.
Aber ihr seid nicht eingeladen.
Denn wir wollen unseren Kuchen mit niemandem teilen,
schon gar nicht mit euch.

„Bitte nicht stören!“
Ja, wir wollen unter uns bleiben.
Wir wollen ganz ungestört unseren dreckigen Geschäften nachgehen,
und wir verdienen am meisten an euch,
wenn ihr draußen bleibt.

„Wir müssen draußen bleiben.“
Hier ist kein Raum für Humanität.

Fünfzig Gründe

Mindestens fünfzig Gründe
kann ich dir nennen,
die dagegen sprechen,
die Heimat zu verlassen.

Die Mutter.
Der Vater.
Die Schwester.
Der Bruder.
Der Mann. Die Frau.
Das Kind. Die Kinder.
Die Enkel.
Die Ahnen.
Die Freunde.
Die Menschen.

Der Berg. Das Tal.
Die Steppe. Die Wüste.
Der See. Das Meer. Der Fluss.
Der Stein.
Der Baum. Der Strauch.
Die Tiere. Die Vögel.
Die Erde unter deinen Füßen.
Der Himmel über dir.
Die Sonne. Die Wolken.
Der Wind in deinem Haar.

Die Stadt. Das Dorf.
Die Straße. Der Weg.
Die alte Brücke.
Die neue Schule.
Das Haus.
Der Hof. Der Garten.
Der Tisch. Das Bett.
Das alte Bild.
Der Blick durch die Tür.
Der Blick aus dem Fenster.

Die Sprache.
Die Küche.
Die Lieder.
Die Tänze.
Die alten Geschichten.
Die alten Bräuche.
Die vertrauten Kleider.
Die vertrauten Gesten.
Das gemeinsame Lachen.
Das gemeinsame Weinen.

Die Erinnerung.
Die Hoffnung.
Der Glaube.
Die Liebe.
Die Verantwortung.
Das Schuldgefühl.
Die Trauer.
Die Angst.
Die Ohnmacht.
Das Heimweh.

Wie groß muss das Leid sein,
wenn man trotz dieser guten Gründe
sein Land verlässt,
wenn man trotzdem flieht?

unsagbar das leid

unzählbar
das leid,
das diese menschen
kaum zu erzählen vermögen:
die verfolgten,
die gefolterten,
die geflohenen

undenkbar
das leid,
das diese menschen
zu erdenken in der lage sind:
die verfolger,
die folterer,
die schlepper

untragbar
das leid,
das menschen menschen
zu ertragen zwingen:
die verfolger die verfolgten,
die folterer die gefolterten,
die schlepper die geflohenen

unfassbar
das leid,
das diese menschen
nie wirklich zu erfassen suchen:
unsere journalisten,
unsere obersten richter,
unsere regierenden

unsagbar
das leid,
das die menschlichkeit
zum versagen verdammt

Kein Land in Sicht

Orientierungslos
treibt das Schiff
auf offenem Meer.

Die Segel zerschlissen.
Die Ruder verloren.
Ankerlos.
Rettungslos.

Rettungslos überfüllt
die wenigen Rettungsboote.
Zerstört die Rettungsringe.
Einen Rettungsanker gibt es nicht.

Mann über Bord.
Frau über Bord.
Kind über Bord.

Über Bord auch
unsere Menschlichkeit.

Kein Ende des Leidens.
Kein Ende des Sterbens.
Kein Ende des Mordens.

Kein Land in Sicht.

“Kein Land in Sicht” ist das Motto des diesjährigen “Open Ohr Festivals” in Mainz, das der Flüchtlingsproblematik gewidmet ist.

 

Die Schuld des Meeres

Kein Land
lässt euch an Land.

Kein Land
nimmt euch auf.

Lassen wir sie doch
vom Meer aufnehmen,
denken die an Land.

Und so
hat das Meer
euch in sich aufgenommen,
euch in sich geborgen,
euch in sich begraben.

Und so
ist das unschuldige Meer
schuldig geworden,
indem es
die Schuld der Länder,
die Schuld derer an Land
in sich aufnimmt,
in sich verbirgt,
in sich begräbt.

Ich habe Angst

Ich habe Angst
vor diesen engen Ängsten
jener grundlos Verängstigten,
die fürchten,
es könnte eng werden
in diesem Land
für sie.

Ich habe Grund zur Angst
vor diesen engstirnigen
und engherzigen Ängstlichen,
die mich fürchten lassen,
es könnte eng werden
in diesem Land
für dich und mich.

Mir wird angst und bange
angesichts dieser vielen Angsthasen,
die sich von diesen fürchterlichen Angstfüchsen
gründlich verführen und führen lassen,
ohne zu befürchten,
es könnte eng werden
in diesem Land
für alles,
wofür es sich lohnte
hier zu leben.

Ich habe Angst.