Kein Land in Sicht

Orientierungslos
treibt das Schiff
auf offenem Meer.

Die Segel zerschlissen.
Die Ruder verloren.
Ankerlos.
Rettungslos.

Rettungslos überfüllt
die wenigen Rettungsboote.
Zerstört die Rettungsringe.
Einen Rettungsanker gibt es nicht.

Mann über Bord.
Frau über Bord.
Kind über Bord.

Über Bord auch
unsere Menschlichkeit.

Kein Ende des Leidens.
Kein Ende des Sterbens.
Kein Ende des Mordens.

Kein Land in Sicht.

“Kein Land in Sicht” ist das Motto des diesjährigen “Open Ohr Festivals” in Mainz, das der Flüchtlingsproblematik gewidmet ist.

 

Die Schuld des Meeres

Kein Land
lässt euch an Land.

Kein Land
nimmt euch auf.

Lassen wir sie doch
vom Meer aufnehmen,
denken die an Land.

Und so
hat das Meer
euch in sich aufgenommen,
euch in sich geborgen,
euch in sich begraben.

Und so
ist das unschuldige Meer
schuldig geworden,
indem es
die Schuld der Länder,
die Schuld derer an Land
in sich aufnimmt,
in sich verbirgt,
in sich begräbt.

Körpergewissen

Sie kommen und suchen bei uns
gesenkten Hauptes Asyl.
Wir empfangen sie
am ausgestreckten Arm
und heißen sie
bei lebendigem Leib willkommen.
Wir weisen sie
alle Hände voll zurück,
sehenden Auges,
und sie kehren um,
mit offenem Mund und
den Rücken zur Wand,
sie gehen
stehenden Fußes, aber
aufrechten Ganges.

Mögen sie bald wiederkehren
und uns – diesmal
erhobenen Hauptes und
die Nase gestrichen voll –
unsere Schuld
unter die Haut schreiben,
bis über beide Ohren.
Und mögen uns ihre Schreie
mit Händen und Füßen heimsuchen
am ganzen Körper.

Lampedusa

nach Paul Celan

Schwarzes Meer der Frühe wir trinken dich nachts
wir trinken dich morgens wir trinken dich zwischen Nacht und Tag
wir trinken und sinken
wir sinken und trinken
wir schöpfen ein Grab aus den Wassern
Sie hören die Möven uns hören sie nicht sie rufen
sie rufen “Zurück” sie zählen
die dicken Fische
hinter den dicken Mauern aus Wasser
hinter den engen Wachen aus Stein
Nass ist
dein aschenes Haar du Mensch auf der Flucht
Tief sinkt
dein bleierner Leib der Tod ist ein Meister aus
Europa