„Behalte den Flug im Gedächtnis“

„Behalte den Flug im Gedächtnis. / Der Vogel ist sterblich.“

Schlussverse aus „Mein Herz ist bedrückt“ von Forugh Farrochsad

Zur Erinnerung an den Tod von Jina Mahsa Amini heute vor einem Jahr und im Gedenken an die vielen, die im Widerstand gegen das iranische Mullah-Regime ihr Leben gelassen haben

wie aber
die Erinnerung
an das Fliegen wachhalten
im immer abgeriegelten Käfig?

nur noch die toten Vögel
wissen davon zu singen

“ein graues Gefühl”

noch unter dem (ersten) Eindruck des Dokumentarfilms “1001 Nights Apart” über ein junges Untergrund-Tanzstudio im Iran, wo Tanzen verboten ist

Hand und Fuß greifen
in grauen Nebel, fassen in
graue Leere, ziehen weiße Linien
über graues Linoleum:
den Mund weit offen
zu stummem Schrei

sie tanzen in diesem grauen Keller:
jeder Schritt, jeder Griff, jeder Blick
ein Versuch, ihren Traum zu leben –
oder eher: ein Versuch zu leben

sie tanzen (denn tanzen ist atmen) –
stets begleitet von diesem Etwas
(sie nennen es “ein graues Gefühl”)

ein Teppich für Mahsa


‎زن، زندگی، آزادی – Frau. Leben. Freiheit.
eine Frau. ohne Leben. ohne Freiheit.
nur Frau. kein Leben. keine Freiheit.
immer Frau. nie Leben. nie Freiheit.
seine Frau. sein Leben. seine Freiheit.
‎زن، زندگی، آزادی – Frau. Leben. Freiheit.
sie Frau. er Leben. wer Freiheit.
wie Frau. so Leben. so Freiheit.
hier Frau. dort Leben. wo Freiheit.
wer Frau. wie Leben. wann Freiheit.
‎زن، زندگی، آزادی – Frau. Leben. Freiheit.
mehr Frau. mehr Leben. mehr Freiheit.
ganz Frau. viel Leben. für Freiheit.
als Frau. ins Leben. in Freiheit.
eine Frau. ihr Leben. ihre Freiheit.
‎زن، زندگی، آزادی – Frau. Leben. Freiheit.

zum tod von SAID

Dies sein letztes Gedicht, veröffentlicht heute posthum auf FAZ.net:

in manchen nächten
suchen platanen nach einem gott
der schweigen kann
die dunkelheit zieht sich zurück
der mond ruft die zikaden
die unbelehrbaren beten
auf eine geste des triumphs verzichten sie

SAID (27. Mai 1947 in Teheran – 15. Mai 2021 in München)

und in den kommenden tagen
suchen die liebenden nach dem dichter
der singen kann
sei nacht zu mir
ich ruf zurück die vögel
die ferne mutterlandschaft schweigt
auf eine geste der trauer verzichte ich

wahr ist geworden sein wort:
wo ich sterbe
ist meine fremde

Asyl

mein Herz
hab ich für Dich
schön heimelig gemacht:
zwei Zimmer, Küche, Bad, Balkon,
mit Himmelbett und Schreibetisch
und einer Laube für uns zwei

Du trittst ein, und ja, Du freust Dich,
und doch, ganz insgeheim, vermisst Du
den großen Garten Deiner Kindertage
und die Veranda rings ums Haus, und
Dir fehlt die Wärme, nicht nur des
Korsi

 

#frapalymo 19-nov-16: Buchtitel-Gedichte

Mit dem neunzehnten Impuls„wählt 10 buchtitel und nutzt ausschließlich diese wörter für ein gedicht“ – habe ich mir einen lang gehegten Wunsch erfüllt: Schon immer wollte ich eine Collage aus Buchtiteln machen… Und so stellte ich mich nun vor mein Bücherregal – doch je nachdem, wo ich stand und sammelte, kam etwas anderes heraus. Und jetzt kann ich mich einfach nicht entscheiden… und so bekommt Ihr heute drei “Gedicht-Versuche” (richtige Gedichte sind es wohl noch nicht…). Noch hänge ich an den Titeln selbst, es ist mir leider noch nicht gelungen, mich von ihnen zu lösen und nur das Wortmaterial zu benutzen, wie Sophie es vorschlägt. Falls da noch was in Gang kommt, werde ich es einfach dazustellen…

 

Versuch 1 – vor dem Lyrik-Regal:

berührte orte

ich steh auf den treppen des winds
auf wolkenbürgschaft
wind und gras
so knallvergnügt
herz über kopf
die hand voller stunden
wintergrün
in meinen träumen läutet es sturm
ruf zurück die vögel

Dies also ein Gedicht aus den Titeln der folgenden Gedichtbände:

  1. Ulrike Draesner: berührte orte
  2. Rolf Bossert: Ich steh auf den Treppen des Winds
  3. Hilde Domin: Auf Wolkenbürgschaft
  4. Wind und Gras. Moderne koreanische Lyrik
  5. So knallvergnügt. Hundert Gedichte über das Glück
  6. Ulla Hahn: Herz über Kopf
  7. Paul Celan: Die Hand voller Stunden
  8. Doris Runge: wintergrün
  9. Mascha Kaleko: In meinen Träumen läutet es Sturm
  10. SAID: Ruf zurück die Vögel

 

Versuch 2 – vor den Romanen:

aufbruch

transit. kein ort. nirgends.
zwischen zwei scheiben glück:
rot die wand. das ungeheuer.

das blaue licht
an der biegung des großen flusses:
novemberinsel

Dieses Gedicht ist montiert aus folgenden Roman-Titeln:

  1. Ulla Hahn: Aufbruch
  2. Anna Seghers: Transit
  3. Christa Wolf: Kein Ort. Nirgends
  4. Irene Dische: Zwischen zwei Scheiben Glück
  5. Uwe Timm: Rot
  6. Marlen Haushofer: Die Wand
  7. Terézia Mora: Das Ungeheuer
  8. Hertha Kräftner: Das blaue Licht
  9. V. S. Naipaul: An der Biegung des großen Flusses
  10. Eveline Hasler: Novemberinsel

 

Versuch 3 – vor dem Iran-Regal

Kelidar

Vergesst Deutschland! Hier ist Iran!
Das Land, in dem meine Eltern umgebracht wurden.
Dein Name: Kelidar. Landschaften einer fernen Mutter.

Jene Tage: Außenhaut, Binnenträume.
Wo ich sterbe ist meine Fremde.
Nachts ist es leise in Teheran.

Dieses Gedicht ist montiert aus folgenden Titeln:

  1. Mahmud Doulatabadi: Kelidar
  2. Navid Kermani: Vergesst Deutschland. Eine patriotische Rede
  3. Hier ist Iran! Persische Lyrik im deutschsprachigen Raum
  4. Parastou Forouhar: Das Land, in dem meine Eltern umgebracht wurden
  5. Navid Kermani: Dein Name
  6. SAID: Landschaften einer fernen Mutter
  7. Forugh Farrochsad: Jene Tage. Gedichte
  8. SAID: Außenhaut, Binnenträume. Gedichte
  9. SAID: Wo ich sterbe ist meine Fremde
  10. Shida Bazyar: Nachts ist es leise in Teheran

 

Versuch 4 – nochmal vor dem Lyrik-Regal (siehe oben), aber nur mit dem Sprachmaterial

wintertraum

in meinen träumen berührte
ich den wind die vögel
auf wolkenruf sturm
auf den treppen voller
stunden knallkopfüber
zurück ins gras, wintergrün

mein herz läutet: ich steh auf