Die zweite Haut (6)

Grünes Moos bedeckt
Erde, Stein und Wurzel.
Alt bin ich geworden. In grünes Moos
bette ich nun mein müdes Haupt.

In meine müden Augen
malt mir die Erde die vertrauten Bilder.
In meine müden Ohren
singen mir die Steine die alten Geschichten.
In meine müden Hände
nehme ich meine Wurzeln.

Ich spüre das grüne Moos
auf meiner Haut. Spüre
das grüne Moos wachsen
über meine Haut durch
meine Haut unter meine Haut.
Alt bin ich geworden. Grünes Moos
deckt mich zu. Ruhe finde ich nun hier
in meiner bemoosten Haut.

Link zum Bild: Karoline Hjort und Riitta Ikonen: Eyes as big as plates – Torleif
Link zur Ausstellung: Die zweite Haut

Die zweite Haut (5)

knüpf mir
ein Kleid aus
getrockneten Blüten, aus
verdorrten Stengeln der
Steinimmortelle
zu lösen klug
des Königs Rätsel:
weder nackt
noch bekleidet

web mir in Form
meinen Körper aus
dem Kleid aus getrockneten
Blüten, aus verdorrten Stengeln der
Steinimmortelle
zu wirken fein
des Menschen Traum:
sowohl unsterblich
als auch vergänglich

Link zum Bild: Ulla Reiss, Kleid für Marion
Link zur Ausstellung: Die zweite Haut

Die zweite Haut (1)

Das Feigenblatt,
das meine Blöße
bedeckt, mir meine
Blöße entdeckt, ist
bloß ein Feigenblatt.

Heute, am ersten Tag des neuen Jahres, war ich in einer Ausstellung, die mich tief beeindruckt hat: “Die zweite Haut” im Museum Sinclair-Haus in Bad Homburg. Sie hat in mir den Wunsch geweckt, mich diesem Thema und seinen Bildern in einem Gedichtzyklus anzunähern – wohin mich das tragen wird, weiß ich noch nicht, aber ich kann mir ja Zeit lassen. Das Motiv für das erste Gedicht stand aber sehr schnell fest, und hier ist es auch schon…
Nach Möglichkeit werde ich Links zu den Bildern, die die Texte jeweils inspiriert haben, einrichten (die Bilder hier direkt einzustellen, ist aus rechtlichen Gründen nicht möglich). Links haben aber auch einen entscheidenden Vorteil: Ihr könnt (!) euch das Bild/die Bilder anschauen, aber ihr müsst es nicht – das entscheidet ihr selbst.
Die Texte sollten aber auch für sich stehen können. Denn es ist nicht das Ziel meiner Texte, die Bilder 1:1 in Worte zu überführen. Die Bilder sind nicht mehr, aber auch nicht weniger als die ‘Auslöser’ für die Texte, in denen ich mich den Reflexionen und Emotionen, die die Bilder in mir freisetzen, auf sprachliche Weise annähere.

Link zu Bild und Ausstellung: Die zweite Haut

Trilogie: Minnesangs Ich-Reflexionen – ein-ander

Eine Pantun-Variation von Heinrich von Morungen

ich bin iemer der ander
niht der eine
ich bin iemer ander
und niht eine

niht der eine
bin ich iemer eine
und niht eine
und niht eine

ich bin iemer eine
ich bin iemer ander
und niht eine
ich bin iemer der ander

Das Pantun gehört für mich zu den großen Entdeckungen beim #frapalymo diesen November. Etwas freier gehandhabt scheint es mir die passende Form zu sein für einen Satz Heinrichs von Morungen (Lied XI, MF 131,25), den die Handschriften in drei Varianten überliefern: “Ich bin iemer der ander, niht der eine” (wird übersetzt mit: ‘Ich bin immer der zweite, nicht der einzige’), “Ich bin iemer ander und niht eine” (wird übersetzt mit: ‘Ich bin immer zu zweit und nicht allein’) und “Ich bin iemer eine und niht eine” (könnte man übersetzen mit: ‘Ich bin immer allein und nicht der einzige’). Aber das Sinnspiel mit “ander” (‘der zweite’, ‘einer von zweien’, ‘der andere’, ‘der nächste’) und “eine” (‘der eine’, ‘der einzige’, ‘allein’) geht meines Erachtens noch viel tiefer… – insofern ist es leider nicht wirklich übersetzbar.

Trilogie: Minnesangs Ich-Reflexionen – da heime nicht

Ein Haiku von Meister Frauenlob

Ich suchte mich, da
vant ich min da heime nicht.
lip, wa was ich do?

Verse aus der dritten Strophe aus Lied 6 von Heinrich von Meißen, genannt Frauenlob (GA XIV,28), neu verfugt zu einem Haiku – ist das nicht ein verblüffend moderner Gedanke am Ende des 13. Jahrhunderts?

Worthilfen: vant = fand; min – wörtlich: meiner, d.h. etwas von mir; da heime = daheim; lip = Leib, Leben; wa = wo; was = war; do = da, damals

Hier meine Übersetzung, die Form wahrend:

Ich suchte mich, da
fand ich nichts von mir zuhaus.
Leib, wo war ich da?

Trilogie: Minnesangs Ich-Reflexionen – getroumet?

Ein inverses Tanka von Walther von der Vogelweide

Owê, war sint verswunden
alliu mîniu jâr?
ist mîn leben getroumet

oder ist ez wâr?
iemer mê ouwê!

Walther von der Vogelweide wäre nicht Walther von der Vogelweide, würde er sich an Regeln halten. Und so ist sein Tanka nicht nach dem traditionellen Muster 5-7-5 7-7 gebaut, sondern invers: 7-5-7 5-5. Die Verse sind dem Eingang seiner sog. ‘Elegie’ (L. 124,1) entnommen, kombiniert mit dem Refrain,  wobei ich nur ein wenig eingreifen musste, um die erforderliche Silbenzahl zu erhalten. Hier meine Übersetzung, die die Form zu bewahren sucht:

Ach, wohin sind verschwunden
all meine Jahre?
Ist mir mein Leben geträumt

oder ist es wahr?
Ach, für immer ach!

Diese Tanka-Variation eröffnet eine kleine Dreierreihe, für die ich Verse gewählt habe, die mich immer schon angesprungen, umgehauen und eingenommen haben.