Sei Nacht zu mir

Variationen über ein Gedicht von SAID

Sei Nacht zu mir!
Am Rande dieser Tage,
mit vielen Worten ohne Gesicht.

SAID, Sei Nacht zu mir. Liebesgedichte. München 1998

Sei Nacht zur mir!
Im Schatten jener Tage,
voll des Lichts.

Sei Tag zu mir!
Im Lichte jener Nächte,
voller Schatten.

Sei Nacht zu mir!
Im Schatten jener Tage,
die mich anschreien
mit ihren Händen.

Sei Tag zu mir!
Im Lichte jener Nächte,
die mich anschreien
mit ihren Augen.

Sei Nacht zu mir!
Im Schatten dieser Nächte
schlafe ich im Lichte
Deiner Augen.

Sei Tag zu mir!
Im Lichte dieser Tage
wache ich im Schatten
Deiner Hände.

Geteiltes Leid

Geliebter,
glaubst Du, ich spürte
in meinem Leid Dein Leid
nicht mehr?

Geliebter,
glaube mir:
Dein Leid ist mein Leid
ebenso wie
mein Leid Dein Leid ist.

Man sagt:
Geteiltes Leid sei
halbes Leid.

Doch
ebenso wenig wie
mein Leid durch Dein Leid
weniger wird, wird
Dein Leid durch mein Leid
weniger.
Leid teilt sich nicht.

Geliebter, deshalb
glaube ich:
Geteiltes Leid ist
doppeltes Leid.

Nur sind wir nicht allein
in unserem doppelten Leid.
Nur haben wir uns
in unserem geteilten Leid.

nicht dort, nicht hier

hier wie dort
weder hier noch dort

schon viel zu lange
weg von dort
von dort hierher
hier nur der von dort
hier nie ganz hier
hier immer noch dort

nur bald wieder
weg von hier
von hier dorthin
dort wieder der von hier
dort ganz dort
dort wieder hier –
doch

nie mehr dorthin
nie wieder dort
für immer hier

für immer hier
und doch nicht hier

nicht dort, nicht hier
nur da

Dem Leben die Stirn

Mit dem Rücken
zu der Welt,
die Du zurück
lassen musstest und
in die Du vielleicht
nie wieder zurück
kehren wirst,
bietest Du
der Welt die Stirn,
die Dich am liebsten zurück
schicken will, aber
aus der Du vielleicht
nie wieder zurück
kommen wirst.

Mit dem Herzen
noch immer
in der Welt,
die Dir am Herzen lag und
die Dir nun
in ihrer Ferne
das Herz bricht,
stößt Du Dir den Kopf
an der Welt,
die mir am Herzen liegt und
die Dir nun
in ihrer Nähe
das Herz bricht.

Zwischen
Dort und Hier
hast Du Dich verloren:
ein Bein, ein Ohr
im Dort,
ein Bein, ein Ohr
im Hier.

Mit dem Rücken
zu den Träumen,
für die Du gelebt hast,
bietest Du
dem Leben die Stirn,
das kein Traum mehr ist.

Mit dem Herzen
noch immer
in dem Leben,
das Dein Traum war,
stößt Du Dir
den Kopf
an meinen Träumen,
die nun Dein Leben sind.

Zwischen
Einst und Jetzt
verliere ich Dich:
ein Auge, eine Hand
im Einst,
ein Auge, eine Hand
im Jetzt.

In zwei Sprachen

Obgleich wir
in der gleichen Sprache
miteinander sprechen,
sprechen wir nicht
die gleiche Sprache.

Wir sprechen zwar beide
in meiner Sprache, aber
Du sprichst mit mir
Deine Sprache
in meiner Sprache, und
ich spreche mit Dir
meine Sprache
in meiner Sprache.

Es würde nicht helfen,
sprächen wir miteinander
in Deiner Sprache, denn
Du sprächest mit mir
Deine Sprache
in Deiner Sprache, und
ich spräche mit Dir
meine Sprache
in Deiner Sprache.

Ich könnte genauso gut
mit Dir
meine Sprache
in meiner Sprache sprechen,
während Du
mit mir
Deine Sprache
in Deiner Sprache sprichst.

Ist damit das letzte Wort
gesprochen?
Das letzte Wort
in Deiner Sprache wie
in meiner Sprache?
Das letzte Wort
Deiner und
meiner Sprache?

 

Schreiben aus Liebe

Ich schreibe über Dich und mich.
Ich schreibe mich an Dich.
Ich schreibe mich zu Dir.
Ich schreibe mich auf Dich.
Ich schreibe mich Dir unter die Haut.

Ich schreibe mich ein in Dich.
Ich schreibe mich aus in Dir.
Ich beschreibe mich mit Dir.
Ich umschreibe mich mit Dir.
Ich erschreibe mich mit Dir.

Ich überschreibe mich Dir.
Ich schreibe mich Dir zu.
Ich verschreibe mich Dir.
Ich verschreibe Dich mir.
Ich schreibe mich ab ohne Dich.

Ich schreibe mich ab von Dir.
Ich überschreibe mich mit Dir.
Ich zerschreibe mich für Dich.
Ich schreibe mich um durch Dich.
Ich unterschreibe Dich mit mir.

Grammatik der Liebe

Du bist das
Dich zu meinem Mich.
Du bist das
Dir zu meinem Mir.
Du bist das
Dein zu meinem Mein.
Du bist das
Du zu meinem Ich.

Du bist das
Dich auf mein Wohin.
Du bist das
Dir auf mein Woher.
Du bist das
Dein auf mein Warum.
Du bist das
Du auf mein Wozu.

Du bist das Dich,
das ich liebe.
Du bist das Dir,
dem ich vertraue.
Du bist das Dein,
dessen ich gedenke.

Du bist das Du,
das mich liebt.
Du bist das Du,
das mir vertraut,
Du bist das Du,
das mein gedenkt.

Du bist mein, ich bin Dein.
Du gehörst mir, ich gehör’ Dir.
Du liebst mich, ich lieb’ Dich.
Du bist ich, ich bin Du.

Für Dich schreibe ich.
Mit Dir lebe ich.
Deinetwegen bin ich.
Du bist mein Schreiben, mein Leben, mein Sein.

Du bist das
Dich, Dir, Dein, Du
in meinem Leben.

zum 14. Hochzeitstag

Liebe in ihren Elementen

FeuerFeuer gefangen
ins kalte Wasser gesprungen
die Luft angehalten
keinen Fuß mehr auf die Erde bekommen

WasserFeuer und Flamme
Wasser und Wein
Luft und Liebe
Himmel und Erde

Luftdurchs Feuer gegangen
mit allen Wassern gewaschen
aus der Luft gegriffen
auf der Erde geblieben

ErdeFeuer=Werk
Wasser=Fall
Luft=Sprung
Erd=Beben

Bilder: Lyrifant, Acryl auf Leinwand, 10 x 10 cm

Schwierige Nähe

Warum darf ich nicht
sprechen über das, was
Dir nahe geht?

Denkst Du,
mir geht es nicht
genauso nahe wie Dir?

Warum willst Du nicht,
dass ich Dir nahe bin in dem, was
Dir nahe ist?

Fürchtest Du,
ich trete Dir zu nahe,
wenn ich Dir nahe sein will
auch in dem, was nur
Dir nahe ist?

Wäre ich Dir näher,
wenn ich Dich allein ließe

mit dem, was
Dir nahe geht,

mit dem, was
Dir nahe ist?

Aber dabei in der Nähe bleibe?

Körpergewissen

Sie kommen und suchen bei uns
gesenkten Hauptes Asyl.
Wir empfangen sie
am ausgestreckten Arm
und heißen sie
bei lebendigem Leib willkommen.
Wir weisen sie
alle Hände voll zurück,
sehenden Auges,
und sie kehren um,
mit offenem Mund und
den Rücken zur Wand,
sie gehen
stehenden Fußes, aber
aufrechten Ganges.

Mögen sie bald wiederkehren
und uns – diesmal
erhobenen Hauptes und
die Nase gestrichen voll –
unsere Schuld
unter die Haut schreiben,
bis über beide Ohren.
Und mögen uns ihre Schreie
mit Händen und Füßen heimsuchen
am ganzen Körper.