Ich habe Angst

Ich habe Angst
vor diesen engen Ängsten
jener grundlos Verängstigten,
die fürchten,
es könnte eng werden
in diesem Land
für sie.

Ich habe Grund zur Angst
vor diesen engstirnigen
und engherzigen Ängstlichen,
die mich fürchten lassen,
es könnte eng werden
in diesem Land
für dich und mich.

Mir wird angst und bange
angesichts dieser vielen Angsthasen,
die sich von diesen fürchterlichen Angstfüchsen
gründlich verführen und führen lassen,
ohne zu befürchten,
es könnte eng werden
in diesem Land
für alles,
wofür es sich lohnte
hier zu leben.

Ich habe Angst.

In der Haut des Exils

Vor dreißig Jahren
bist Du hier her gekommen –
Deine nackte Haut
zu retten.

Seit dreißig Jahren
rücken sie Dir nun hier
auf den Pelz und
ziehen Dir Stück für Stück
das Fell ab.

Seit dreißig Jahren
setzen sie Dir nun hier
Laus um Laus
in Deinen Pelz,
den sie bereits unter sich aufgeteilt haben,
noch bevor sie Dir
das Fell
über die Ohren ziehen.

Seit dreißig Jahren
gehen sie Dir nun hier
unter die Haut –
unter Deine fremde Haut,
in die sie Dich
vor dreißig Jahren
gesteckt haben und
in der sie selbst
nie hätten stecken wollen.

Ein dickes Fell
hast Du für
Deine teuer verkaufte Haut
in den dreißig Jahren hier
nicht bekommen.
Nass ist Dein Pelz,
so oft ist er gewaschen worden.

Dünnhäutig,
exilhäutig
bist Du geworden
hier in diesen dreißig Jahren.

Wenn Du könntest,
würdest Du sofort
aus Deiner dünnen Haut
zu Dir nach Hause fahren.

Doch wer kann schon
aus der Haut des Exils?

30 Jahre Exil – (k)ein Grund zum Feiern?!
Doch ich danke Dir und dem Leben, dass ich über 28 Jahre davon gemeinsam mit Dir verbringen durfte, auch wenn es nicht immer leicht war und ist.

Ich liebe Dich

Meine Augen
jubeln, sobald sie
Dich sehen:
Ich liebe Dich.

Meine Ohren
jubeln, sobald sie
Dich hören:
Ich liebe Dich.

Meine Nase
jubelt, sobald sie
Dich riecht:
Ich liebe Dich.

Meine Zunge
jubelt, sobald sie
Dich schmeckt:
Ich liebe Dich.

Meine Hände
jubeln, sobald sie
Dich spüren:
Ich liebe Dich.

Von Sinnen ist
dein Jubel,
gibt mein Kopf mir zu bedenken.

Von Herzen kommt
mein Jubel,
erwidere ich.

Denn es ist
mein Herz, das
jubelt, sobald es
Dich sieht, hört, riecht, schmeckt oder spürt:
Ich liebe Dich.

zum 15. Hochzeitstag

Mein Blaues Lied

für Ahmad Schamlu, eine Art Antwort

Mit meinem Blau
male ich Sterne

in das Blaue vom Himmel.

Mit meinem Blau
schreibe ich ins Blaue.
Ein Meer von blauen Gedanken.
Die Farbe
der Tinte ist königsblau.

Das Blau war außer sich vor Freude
Als wir geboren wurden.

O Blau der Welt!
Der blaue Vogel deines Auges

sucht noch immer die Blaue Blume.

Ein blauer Augenblick ist nun mehr Seele.

O Blau der Welt!
Der blaue Vogel deines Auges
sucht noch immer das blaue Wunder.

Ein blauer Tag. Blaue Stunde:
Mein blaues Klavier
spielt mein Blaues Lied.

Mir ist in solchen linden blauen Tagen,
als ob wir
mit einem blauen Auge
plötzlich sehen

daß Jahre später
          Heimat bedeutet
ein schimmerndes Blau.

Dieses Gedicht ist eine Collage aus Texten von

  • Rose Ausländer, Verwandelt
  • Heinrich Heine, Mit deinen blauen Augen
  • Rolf Dieter Brinkmann, Von der Gegenständlichkeit eines Gedichts
  • Elisabeth Borchers, Nerudas Blau
  • Paul Celan, O Blau der Welt
  • Yvan Goll, Der blaue Vogel deines Auges
  • Novalis, Die blaue Blume
  • Ernst Trakl, Kindheit
  • Hilde Domin, Ein blauer Tag
  • Stefan George, Blaue Stunde
  • Else Lasker-Schüler, Mein blaues Klavier
  • Joseph von Eichendorff, Was wollen mir vertraun die blauen Weiten
  • Ahmad Schamlu, Blaues Lied

Bis auf Novalis und Ahmad Shamlu sind alle Gedichte zu finden in: Blaue Gedichte. Hrsg. von Gabriele Sander. Stuttgart 2001, 2012. (Reclams Universal-Bibliothek 18925). Novalis’ ‘Die blaue Blume’ ist Teil seines Romanfragmentes ‘Heinrich von Ofterdingen’. Ahmad Schamlus Gedicht ‘Blaues Lied’ findet man in dem gleichnamigen zweisprachigen Gedichtband, übersetzt von Farhad Showghi.

Alt

Krumm
Dein Rücken
von der Last Deiner Liebe
zu mir.

Grau
Dein Haar
aus unermüdlicher Sorge
um mich.

Schwer
Dein Schritt
durch das lange Gehen
mit mir.

Blind
Deine Augen
im steten Schauen
nach mir.

Alt
bist Du geworden,
mein Schatz,
bei mir,
mit mir,
durch mich,
und wohl auch meinetwegen.

Alt
aber wird nie
Deine Liebe zu mir.

 

Du bist da

Du schenkst mir Wärme,
auch dann,
wenn mir nicht kalt ist.

Du gibst mir Halt,
auch dort,
wo ich auf festem Boden stehe.

Du trägst mich,
auch dorthin,
wohin ich alleine gehen könnte.

Du fängst mich auf,
auch dann,
wenn ich nicht falle.

Du berührst mich,
auch dort,
wo niemand mich berühren darf.

Du stellst mich in Frage,
auch dann,
wenn ich die Antwort zu haben glaube.

Du bist da,
nicht nur,
wenn ich Dich brauche.

Sei Nacht zu mir

Variationen über ein Gedicht von SAID

Sei Nacht zu mir!
Am Rande dieser Tage,
mit vielen Worten ohne Gesicht.

SAID, Sei Nacht zu mir. Liebesgedichte. München 1998

Sei Nacht zur mir!
Im Schatten jener Tage,
voll des Lichts.

Sei Tag zu mir!
Im Lichte jener Nächte,
voller Schatten.

Sei Nacht zu mir!
Im Schatten jener Tage,
die mich anschreien
mit ihren Händen.

Sei Tag zu mir!
Im Lichte jener Nächte,
die mich anschreien
mit ihren Augen.

Sei Nacht zu mir!
Im Schatten dieser Nächte
schlafe ich im Lichte
Deiner Augen.

Sei Tag zu mir!
Im Lichte dieser Tage
wache ich im Schatten
Deiner Hände.

Geteiltes Leid

Geliebter,
glaubst Du, ich spürte
in meinem Leid Dein Leid
nicht mehr?

Geliebter,
glaube mir:
Dein Leid ist mein Leid
ebenso wie
mein Leid Dein Leid ist.

Man sagt:
Geteiltes Leid sei
halbes Leid.

Doch
ebenso wenig wie
mein Leid durch Dein Leid
weniger wird, wird
Dein Leid durch mein Leid
weniger.
Leid teilt sich nicht.

Geliebter, deshalb
glaube ich:
Geteiltes Leid ist
doppeltes Leid.

Nur sind wir nicht allein
in unserem doppelten Leid.
Nur haben wir uns
in unserem geteilten Leid.

nicht dort, nicht hier

hier wie dort
weder hier noch dort

schon viel zu lange
weg von dort
von dort hierher
hier nur der von dort
hier nie ganz hier
hier immer noch dort

nur bald wieder
weg von hier
von hier dorthin
dort wieder der von hier
dort ganz dort
dort wieder hier –
doch

nie mehr dorthin
nie wieder dort
für immer hier

für immer hier
und doch nicht hier

nicht dort, nicht hier
nur da

Dem Leben die Stirn

Mit dem Rücken
zu der Welt,
die Du zurück
lassen musstest und
in die Du vielleicht
nie wieder zurück
kehren wirst,
bietest Du
der Welt die Stirn,
die Dich am liebsten zurück
schicken will, aber
aus der Du vielleicht
nie wieder zurück
kommen wirst.

Mit dem Herzen
noch immer
in der Welt,
die Dir am Herzen lag und
die Dir nun
in ihrer Ferne
das Herz bricht,
stößt Du Dir den Kopf
an der Welt,
die mir am Herzen liegt und
die Dir nun
in ihrer Nähe
das Herz bricht.

Zwischen
Dort und Hier
hast Du Dich verloren:
ein Bein, ein Ohr
im Dort,
ein Bein, ein Ohr
im Hier.

Mit dem Rücken
zu den Träumen,
für die Du gelebt hast,
bietest Du
dem Leben die Stirn,
das kein Traum mehr ist.

Mit dem Herzen
noch immer
in dem Leben,
das Dein Traum war,
stößt Du Dir
den Kopf
an meinen Träumen,
die nun Dein Leben sind.

Zwischen
Einst und Jetzt
verliere ich Dich:
ein Auge, eine Hand
im Einst,
ein Auge, eine Hand
im Jetzt.

In zwei Sprachen

Obgleich wir
in der gleichen Sprache
miteinander sprechen,
sprechen wir nicht
die gleiche Sprache.

Wir sprechen zwar beide
in meiner Sprache, aber
Du sprichst mit mir
Deine Sprache
in meiner Sprache, und
ich spreche mit Dir
meine Sprache
in meiner Sprache.

Es würde nicht helfen,
sprächen wir miteinander
in Deiner Sprache, denn
Du sprächest mit mir
Deine Sprache
in Deiner Sprache, und
ich spräche mit Dir
meine Sprache
in Deiner Sprache.

Ich könnte genauso gut
mit Dir
meine Sprache
in meiner Sprache sprechen,
während Du
mit mir
Deine Sprache
in Deiner Sprache sprichst.

Ist damit das letzte Wort
gesprochen?
Das letzte Wort
in Deiner Sprache wie
in meiner Sprache?
Das letzte Wort
Deiner und
meiner Sprache?