Schuld und Unschuld

Was ist des Unschuldigen Schuld –
Wo beginnt sie?
Sie beginnt da,
Wo er gelassen, mit hängenden Armen
Schulterzuckend daneben steht,
Den Mantel zuknöpft, die Zigarette
Anzündet und spricht:
Da kann man nichts machen.
Seht, da beginnt des Unschuldigen Schuld.

Gerty Spies

 

I

Des Unschuldigen Schuld
Beginnt dort, wo endet
Des Schuldigen Unschuld.

 

II

Schuldlos schuldig
Der Schuldige
Stirbt dort, wo lebt
Der Unschuldige
Schuldig schuldlos.

 

III

Des Unschuldigen Unschuld
Schuldet ihre Unschuld
Des Schuldigen Schuld.

Des Schuldigen Schuld
Schuldet ihre Schuld
Des Unschuldigen Unschuld.

 

IV

Des Unschuldigen Schuld
Entschuldigt nicht
Des Schuldigen Schuld.

Des Schuldigen Unschuld
Entschuldigt nicht
Des Unschuldigen Schuld.

Das Kriminalgedicht

Einen Reim auf die Leiche.
Jeder Vers eine Spur.
Des Dichters Fuß ist
sein Fingerabdruck.
Zwischen den Zeilen
jagt der Leser den Dichter.
Am Ende der Strophe
ein neuer Verdacht.

Ein Mord für das Wort.
Jede Silbe ein Schuss.
Des Dichters Blut ist
kein Indiz.
Hinter den Zeilen
jagt der Dichter den Leser.
Das Ende vom Lied
ein flüchtiger Sinn.

Eine neue Dimension von “Kripo”: Kriminalpoesie!

Geteiltes Leid

Geliebter,
glaubst Du, ich spürte
in meinem Leid Dein Leid
nicht mehr?

Geliebter,
glaube mir:
Dein Leid ist mein Leid
ebenso wie
mein Leid Dein Leid ist.

Man sagt:
Geteiltes Leid sei
halbes Leid.

Doch
ebenso wenig wie
mein Leid durch Dein Leid
weniger wird, wird
Dein Leid durch mein Leid
weniger.
Leid teilt sich nicht.

Geliebter, deshalb
glaube ich:
Geteiltes Leid ist
doppeltes Leid.

Nur sind wir nicht allein
in unserem doppelten Leid.
Nur haben wir uns
in unserem geteilten Leid.

Der Tod der Wahrheit

Das erste Opfer
eines jeden Krieges
– so sagt man –
ist die Wahrheit.

Manche sagen auch:
Die Wahrheit stirbt immer
schon vor jedem Krieg.

Ich frage mich, ob es
ohne den Tod der Wahrheit
überhaupt einen Krieg gäbe.
Denn wer den Krieg will,
muss die Wahrheit töten.

Der Tod der Wahrheit
ist kein Kollateralschaden.
Der Tod der Wahrheit
ist auch keine unvermeidliche Folge
von Kriegsvorbereitungen.
Der Tod der Wahrheit
ist die unabdingbare Bedingung
eines jeden Krieges.

Insofern ist die Wahrheit
nicht das erste Opfer des Krieges, sondern
der eigentliche Feind des Krieges.
Denn die Wahrheit ist
der Tod eines jeden Krieges –
nein, die Wahrheit wäre
der Tod eines jeden Krieges,
hätte man sie nicht
um des Krieges willen
schon lange getötet.