Körperlandschaften

Schön ist
eine Wanderung
von der Fußsohle
über das Rückgrat
bis hinauf zum Schulterblatt.

Die Fingerkuppe verspricht
eine gute Aussicht über
die Bauchdecke bis
hinunter zur Kniescheibe.

Schon lockt
die Armbeuge.
Vor den Lendenwirbeln
finden wir
Schutz in der Achselhöhle.

Bald klettern wir über
Haarwurzeln, sammeln
Ohrmuscheln im Brustkorb.
Im Mundwinkel
machen wir Picknick:
Du knabberst
an meinem Augapfel.

Das Gaumensegel
ist gespannt. Wir
breiten unsere Nasenflügel aus und
fliegen –

unsagbar das leid

unzählbar
das leid,
das diese menschen
kaum zu erzählen vermögen:
die verfolgten,
die gefolterten,
die geflohenen

undenkbar
das leid,
das diese menschen
zu erdenken in der lage sind:
die verfolger,
die folterer,
die schlepper

untragbar
das leid,
das menschen menschen
zu ertragen zwingen:
die verfolger die verfolgten,
die folterer die gefolterten,
die schlepper die geflohenen

unfassbar
das leid,
das diese menschen
nie wirklich zu erfassen suchen:
unsere journalisten,
unsere obersten richter,
unsere regierenden

unsagbar
das leid,
das die menschlichkeit
zum versagen verdammt

Kein Land in Sicht

Orientierungslos
treibt das Schiff
auf offenem Meer.

Die Segel zerschlissen.
Die Ruder verloren.
Ankerlos.
Rettungslos.

Rettungslos überfüllt
die wenigen Rettungsboote.
Zerstört die Rettungsringe.
Einen Rettungsanker gibt es nicht.

Mann über Bord.
Frau über Bord.
Kind über Bord.

Über Bord auch
unsere Menschlichkeit.

Kein Ende des Leidens.
Kein Ende des Sterbens.
Kein Ende des Mordens.

Kein Land in Sicht.

“Kein Land in Sicht” ist das Motto des diesjährigen “Open Ohr Festivals” in Mainz, das der Flüchtlingsproblematik gewidmet ist.

 

Die Schuld des Meeres

Kein Land
lässt euch an Land.

Kein Land
nimmt euch auf.

Lassen wir sie doch
vom Meer aufnehmen,
denken die an Land.

Und so
hat das Meer
euch in sich aufgenommen,
euch in sich geborgen,
euch in sich begraben.

Und so
ist das unschuldige Meer
schuldig geworden,
indem es
die Schuld der Länder,
die Schuld derer an Land
in sich aufnimmt,
in sich verbirgt,
in sich begräbt.