schau mir in die Augen, Liebster
und lass dich fallen
mein Zwerchfell fängt dich auf
solltest du mein Herz verfehlen
ach, nun schütteln wir uns vor Lachen
und du rutschst mir bis in die Zehenspitzen
doch sorg Dich nicht, denn meine Venen
werden dich wieder nach oben pumpen
aber vergiss nicht, im Herzen auszusteigen
sonst steigst du mir noch in den Kopf
dort gibt es keinen Ausweg mehr, denn
zu den Ohren kommst du mir nicht heraus
musst nun für immer in mir bleiben
es sei denn, ich spreche Dich
aus
Körper
Kleine Relativitätstheorie des Alterns
Sarkastisches Liedlein auf den körperlichen Verfall
Das Haar dünner,
dafür dicker der Bauch.
Die Füße platter,
dafür runder die Hüften.
Der Rücken krummer,
dafür gerader die Gelenke.
Die Blase schwächer,
dafür stärker die Adern.
Die Lippen schmäler,
dafür breiter das Gesäß.
Die Muskeln härter,
dafür weicher das Bindegewebe.
Die Haut rauer,
dafür glatter der Hinterkopf.
Die Falten mehr,
dafür weniger Zähne.
Der Geist leerer,
dafür voller der Darm.
Die Brust enger,
dafür weiter die Kleider.
Der Atem schwerer,
dafür leichter die Kost.
Die Augen müder,
dafür wacher der Schmerz.
Die Lust kleiner,
dafür größer das Leid.
Die zweite Haut (13 – Epilog)
ich lese
die Farben der Erde
auf meine Haut
in meinen Leib
die Formen der Erde
ich schreibe
ich nehme
von der Erde
die Farben meiner Haut
die Formen meines Leibes
in die Erde
ich gebe
ich komme
aus Erde, in Erde
ich gehe, ich bin
von Erde, zu Erde
ich werde
Link zu den Bildern: Vollrad Kutscher, Der weiße Traum. Verschmelzung (Seite 3-5); Infos zum Projekt auf der Webseite des Künstlers (Die Körperabdrucke auf weißem Laken waren nicht Teil der von mir besuchten Ausstellung)
Link zur Ausstellung: Die zweite HautMit diesem Text ist der Zyklus jetzt erst einmal zu Ende. Eine Gesamtübersicht über den Zyklus habe ich hier noch einmal als pdf-Datei hier zusammengestellt: Die zweite Haut – Struktur.
Die zweite Haut (10)
aus dem Fluss
den Sand
aus dem Staub
das Laub
zu einem Gewand
aus einem Guss
uns zum Gedächtnis:
lose
körperlose
Körper im Wind
Kind, wie laut
schreibt ihre
Haut
an uns
ihr Vermächtnis
Link zum Bild: Esther Glück, Shapewear
Link zur Ausstellung: Die zweite Haut
Die zweite Haut (5)
knüpf mir
ein Kleid aus
getrockneten Blüten, aus
verdorrten Stengeln der
Steinimmortelle
zu lösen klug
des Königs Rätsel:
weder nackt
noch bekleidet
web mir in Form
meinen Körper aus
dem Kleid aus getrockneten
Blüten, aus verdorrten Stengeln der
Steinimmortelle
zu wirken fein
des Menschen Traum:
sowohl unsterblich
als auch vergänglich
Link zum Bild: Ulla Reiss, Kleid für Marion
Link zur Ausstellung: Die zweite Haut
Die zweite Haut (4)
nicht Haut nicht
Knochen bloß:
trägst Fleisch von
meinem Fleisch
bist Fleisch aus
deinem Fleisch:
bloß Fleisch und
Blut und Haut
und Knochen
bist du und ich
dein Stachel
Link zum Bild: Jana Sterbak, Vanitas. Flesh dress for an albino anorectic
Link zur Ausstellung: Die zweite Haut
Die zweite Haut (2)
Ein Kleid aus
meiner Haut auf
meiner Haut: zieh
ich es aus, bin ich
nackt, zieh ich es an,
bin ich außen
wie innen
nackt.
Link zu den Bildern: Alba d’Urbano, Il Sarto Immortale
Link zur Ausstellung: Die zweite Haut
handfeste Wahrheit
es liegt in unserer Hand
was wir in die Hand nehmen
was wir aus der Hand geben
es liegt in unserer Hand
Auch wenn Du weg bist
Auch wenn Du weg bist,
spüre ich Dein Auge
auf meiner Haut,
lese ich Dein Lächeln
aus meiner Hand.
Auch wenn Du weg bist,
höre ich Deinen Mund
an meinem Haar,
trinke ich Deine Stimme
von meinem Kopf
bis zu meinem Fuß.
Auch wenn Du weg bist,
schmecke ich Dein Herz
neben meinem Herzen,
atme ich Deinen Atem
in meinem Atem.
Auch wenn Du weg bist,
bist Du da.
Mein Herz steht Kopf
Mein Herz
steht Kopf.
Meine Hand
fasst Fuß
auf Deiner Haut,
in Deinem Haar.
Mein Auge
ist ganz Ohr
für Deinen Mund.
Körperlandschaften
Schön ist
eine Wanderung
von der Fußsohle
über das Rückgrat
bis hinauf zum Schulterblatt.
Die Fingerkuppe verspricht
eine gute Aussicht über
die Bauchdecke bis
hinunter zur Kniescheibe.
Schon lockt
die Armbeuge.
Vor den Lendenwirbeln
finden wir
Schutz in der Achselhöhle.
Bald klettern wir über
Haarwurzeln, sammeln
Ohrmuscheln im Brustkorb.
Im Mundwinkel
machen wir Picknick:
Du knabberst
an meinem Augapfel.
Das Gaumensegel
ist gespannt. Wir
breiten unsere Nasenflügel aus und
fliegen –
Handscheue Zeiten
Es gibt Tage,
da empfindest du
einen bloßen Handschlag oder
einen etwas festeren Händedruck oder auch
ein ausgiebiges Händeschütteln
bereits als körperliche Gewalt.
Es gibt Tage,
da deutest du
jedes Handzeichen
als persönliche Beleidigung.
Jeder Handgriff
wird zur Handgreiflichkeit.
An diesen Tagen
bist du einfach
zu empfindlich gegenüber
dem allzu Handfesten,
dem allzu Handlichen,
dem allzu Handhabbaren.
Da würdest du am liebsten
im Handumdrehen
verschwinden oder
mit einem Handstreich
alles verschwinden lassen.
An diesen Tagen bist du
keine Handbreit bereit
zu handeln.
An Tagen wie diesen bist du
handlungsunfähig –
und verabschiedest dich deshalb
– scheinbar ganz handzahm –
mit einem Handkuss
von jeglicher Handarbeit.