Poetik

Greif dir ein Wort
aus der Luft
und schreibe es
in den Wind.

Wasch dein Wort
mit allen Wassern
und baue dir daraus ein Lied
auf Sand.

Schnitze dir ein neues Wort
aus dem gleichen Holz
und schieße es
auf den Mond,
in den du schaust.

Hol dir ein letztes Wort
aus dem Feuer
und bringe es
unter die Erde
und lege es
der Welt in den Mund.

 

wer bin ich?

ich bin ich
oder?

ich bin du für dich
ich bin sie für sie und ihn und sie
ich bin wir für dich und mich, für uns
ich bin ihr für euch
ich bin Sie für Sie

ich bin zu oft nur mich
ich bin zu oft nur mir
ich bin viel zu selten wirklich ich

 

 

nicht dort, nicht hier

hier wie dort
weder hier noch dort

schon viel zu lange
weg von dort
von dort hierher
hier nur der von dort
hier nie ganz hier
hier immer noch dort

nur bald wieder
weg von hier
von hier dorthin
dort wieder der von hier
dort ganz dort
dort wieder hier –
doch

nie mehr dorthin
nie wieder dort
für immer hier

für immer hier
und doch nicht hier

nicht dort, nicht hier
nur da

Lontano

unter dem Eindruck von György Ligetis Klangteppich „Lontano für großes Orchester“ (1967)

Die Weite des Klangs
verliert sich in
der Weite des Klangs
lang und weit

Die Tiefe des Klangs
verliert sich in
der Tiefe des Klangs
weit und tief

Die Trübe des Klangs
verliert sich in
der Trübe des Klangs
tief und trüb

Die Fülle des Klangs
verliert sich in
der Fülle des Klangs
trüb und voll

Die Dichte des Klangs
verliert sich in
der Dichte des Klangs
voll und dicht

Die Ferne des Klangs
verliert sich in
der Ferne des Klangs
dicht und fern
fern
fern

Schreiben aus Liebe

Ich schreibe über Dich und mich.
Ich schreibe mich an Dich.
Ich schreibe mich zu Dir.
Ich schreibe mich auf Dich.
Ich schreibe mich Dir unter die Haut.

Ich schreibe mich ein in Dich.
Ich schreibe mich aus in Dir.
Ich beschreibe mich mit Dir.
Ich umschreibe mich mit Dir.
Ich erschreibe mich mit Dir.

Ich überschreibe mich Dir.
Ich schreibe mich Dir zu.
Ich verschreibe mich Dir.
Ich verschreibe Dich mir.
Ich schreibe mich ab ohne Dich.

Ich schreibe mich ab von Dir.
Ich überschreibe mich mit Dir.
Ich zerschreibe mich für Dich.
Ich schreibe mich um durch Dich.
Ich unterschreibe Dich mit mir.

Dichterworte

Wer dichtet, ist ein Wortungeheuer,
das in Wörtern
nach Worten taucht.

Wer dichtet, ist ein Wortsammler,
der zwischen Wortfetzen und
treibendem Wortgut
manch Wortschatz entdeckt.

Wer dichtet, ist ein Wortkenner,
der – das Ohr am Wortlaut –
von jeder Wortart
ein Wörtchen zu sagen weiß.

Wer dichtet, ist ein Wortspieler,
der neue Wörter
aus dem Wortschwall schöpft,
der Phrasen
auf dem Wortfeld drischt,
der Sprüche
im Wortbruch klopft.

Wer dichtet, ist ein Wortführer,
der den Wortreichen
ihr großes Wort abschneidet
den Wortmächtigen
das Wort aus dem Mund nimmt
und den Wortlosen
das letzte Wort gibt.

Wer dichtet, ist ein Wortverdreher,
der um Wort und Antwort,
um Spruch und Zuspruch,
um Rede und Gegenrede
nie verlegen ist und
der das Wort ergreift,
um dem Wort das Wort zu reden.

Wer dichtet, ist ein Wortklauber,
der jedes Wort auf die Goldwaage legt,
und sich selbst das Wort im Mund umdreht,
der ins Wort fällt,
der im Wort steht,
der sein Wort hält.
Wer dichtet, den kannst du
beim Wort nehmen, denn
wer dichtet, lässt kein Wort fallen,
wer dichtet, verliert kein Wort.

Wer dichtet, ist ein Wortkünstler,
der dir sein Wort gibt,
weil ihm die Worte fehlen.