Körperlandschaften

Schön ist
eine Wanderung
von der Fußsohle
über das Rückgrat
bis hinauf zum Schulterblatt.

Die Fingerkuppe verspricht
eine gute Aussicht über
die Bauchdecke bis
hinunter zur Kniescheibe.

Schon lockt
die Armbeuge.
Vor den Lendenwirbeln
finden wir
Schutz in der Achselhöhle.

Bald klettern wir über
Haarwurzeln, sammeln
Ohrmuscheln im Brustkorb.
Im Mundwinkel
machen wir Picknick:
Du knabberst
an meinem Augapfel.

Das Gaumensegel
ist gespannt. Wir
breiten unsere Nasenflügel aus und
fliegen –

Metamorphosen

Wem man
die Flügel stutzt,
kann nicht mehr
fliegen.
So lernte ich laufen.

Wem man
die Wurzeln abhackt,
kann nicht mehr
wachsen.
So lernte ich klettern.

Wem man
die Luft abschnürt,
kann nicht mehr
atmen.
So lernte ich tauchen.

Wem man
die Augen aussticht,
kann nicht mehr
sehen.
So lernte ich fühlen.

Wem man
die Hände bindet,
kann nicht mehr
greifen.
So lernte ich denken.

Wem man
das Maul stopft,
kann nicht mehr
sprechen.
So lernte ich schreiben.

Wem man
die Liebe versagt,
kann nicht
leben.
So lernte ich lieben.

Ich liebe Dich

Meine Augen
jubeln, sobald sie
Dich sehen:
Ich liebe Dich.

Meine Ohren
jubeln, sobald sie
Dich hören:
Ich liebe Dich.

Meine Nase
jubelt, sobald sie
Dich riecht:
Ich liebe Dich.

Meine Zunge
jubelt, sobald sie
Dich schmeckt:
Ich liebe Dich.

Meine Hände
jubeln, sobald sie
Dich spüren:
Ich liebe Dich.

Von Sinnen ist
dein Jubel,
gibt mein Kopf mir zu bedenken.

Von Herzen kommt
mein Jubel,
erwidere ich.

Denn es ist
mein Herz, das
jubelt, sobald es
Dich sieht, hört, riecht, schmeckt oder spürt:
Ich liebe Dich.

zum 15. Hochzeitstag

Du bist da

Du schenkst mir Wärme,
auch dann,
wenn mir nicht kalt ist.

Du gibst mir Halt,
auch dort,
wo ich auf festem Boden stehe.

Du trägst mich,
auch dorthin,
wohin ich alleine gehen könnte.

Du fängst mich auf,
auch dann,
wenn ich nicht falle.

Du berührst mich,
auch dort,
wo niemand mich berühren darf.

Du stellst mich in Frage,
auch dann,
wenn ich die Antwort zu haben glaube.

Du bist da,
nicht nur,
wenn ich Dich brauche.

Sei Nacht zu mir

Variationen über ein Gedicht von SAID

Sei Nacht zu mir!
Am Rande dieser Tage,
mit vielen Worten ohne Gesicht.

SAID, Sei Nacht zu mir. Liebesgedichte. München 1998

Sei Nacht zur mir!
Im Schatten jener Tage,
voll des Lichts.

Sei Tag zu mir!
Im Lichte jener Nächte,
voller Schatten.

Sei Nacht zu mir!
Im Schatten jener Tage,
die mich anschreien
mit ihren Händen.

Sei Tag zu mir!
Im Lichte jener Nächte,
die mich anschreien
mit ihren Augen.

Sei Nacht zu mir!
Im Schatten dieser Nächte
schlafe ich im Lichte
Deiner Augen.

Sei Tag zu mir!
Im Lichte dieser Tage
wache ich im Schatten
Deiner Hände.

Geteiltes Leid

Geliebter,
glaubst Du, ich spürte
in meinem Leid Dein Leid
nicht mehr?

Geliebter,
glaube mir:
Dein Leid ist mein Leid
ebenso wie
mein Leid Dein Leid ist.

Man sagt:
Geteiltes Leid sei
halbes Leid.

Doch
ebenso wenig wie
mein Leid durch Dein Leid
weniger wird, wird
Dein Leid durch mein Leid
weniger.
Leid teilt sich nicht.

Geliebter, deshalb
glaube ich:
Geteiltes Leid ist
doppeltes Leid.

Nur sind wir nicht allein
in unserem doppelten Leid.
Nur haben wir uns
in unserem geteilten Leid.