Ein inverses Tanka von Walther von der Vogelweide
Owê, war sint verswunden
alliu mîniu jâr?
ist mîn leben getroumet
oder ist ez wâr?
iemer mê ouwê!
Walther von der Vogelweide wäre nicht Walther von der Vogelweide, würde er sich an Regeln halten. Und so ist sein Tanka nicht nach dem traditionellen Muster 5-7-5 7-7 gebaut, sondern invers: 7-5-7 5-5. Die Verse sind dem Eingang seiner sog. ‘Elegie’ (L. 124,1) entnommen, kombiniert mit dem Refrain, wobei ich nur ein wenig eingreifen musste, um die erforderliche Silbenzahl zu erhalten. Hier meine Übersetzung, die die Form zu bewahren sucht:
Ach, wohin sind verschwunden
all meine Jahre?
Ist mir mein Leben geträumtoder ist es wahr?
Ach, für immer ach!Diese Tanka-Variation eröffnet eine kleine Dreierreihe, für die ich Verse gewählt habe, die mich immer schon angesprungen, umgehauen und eingenommen haben.
Wie seltsam, altvertrauten Text
in früher unerkannter Form zu lesen.
Und die Aussage erfasst man jenseits der Lebensmitte wohl auch anders, als mit 17 in der Oberstufe.
Oh ja – das stimmt: Ich habe dieses Gedicht kennen und lieben gelernt in der 10. Klasse (durch eine Referendarin, die mit uns Walther von der Vogelweide gemacht hat, wofür ich ihr heute noch dankbar bin) – ja, und heute habe ich ein durch die Erfahrung vertieftes Verstehen für das unerbittliche ‘Verschwinden der Jahre’…