



Mit diesem ersten Bruchstück beginnt Lyrifants Adventskalender 2025 – er ist ein bisschen verschroben (wie seine Urheberin 😉): ein Experiment, ganz im Geiste der Romantik, ein ‚progressiv-universalpoetisches‘ Sprachspiel, eine Liebeserklärung an das Fragment und seine poetische Kraft. Lasst Euch überraschen – doch vor allem: Habt eine schöne, poetisch erfüllte Adventszeit!
heute am frühen Morgen (es war schon hell)
ein verschlafener Blick aus dem Fenster:
hui, es schneit!
(und das Herz ist sofort wach)
an deine nasskalte Nebelschulter
lass mich meine Regentränen betten:
die graue Zeit ist doch stets Heimat mir
und dringt – ganz unverhofft – durchs Grau
zu mir dein goldblätterndes Lächeln:
so wird die lichte Zeit Versprechen
ob gestern, heute oder morgen:
heute ist immer
heute
im Schweifreim schweife ich
(am Ufer des Fließtextes entlang)
(zwischen Zwischen-, Schlag- und Leerzeilen)
(mal auf verschlungenen Lang-,
mal auf offenen Kurzversen)
über herbstliche Wortfelder
ich lese reife Lesefrüchte auf
(gelegentlich auch eine Kopfnuss)
und ritze heimlich Buchzeichen
in die Rinden alter Buchstaben
(für ein Eichhörnchen, vielleicht)
und neben abwegig-abseitigen Nebensätzen
finde ich das Zauberwort: die Gelegenheit
für ein Gelegenheitsgedicht
es ist Zeit zu überdenken:
will ich schreien oder schreiben?
will ich zeigen oder schweigen?
will ich sagen oder fragen?
will ich klären oder klaren?
es ist Zeit um_zu_dichten:
mehr WiederWorte, weniger WiderWorte
mehr WerkVerse, weniger MerkVerse
mehr MeerReime, weniger KehrReime
mehr GernSätze, weniger KernSätze
es ist Zeit
im Grau verschwimmen
Schwarz und Weiß –
und durch den Nebel schimmert
Hagebuttenrot
Nie hätte ich geglaubt, dass ich mich einmal tatsächlich öffentlich zu Kitsch bekennen müsste – doch ich in diesem einen Fall bleibt mir keine Wahl.
von seinem aufrechten „Friedenskitsch“
wünsche ich mir entschieden mehr
als von eurer verlogenen Kriegsromantik
nein, mein was auch immer geb ich euch nicht –
geb ich euch doch schon viel zu viel
mit meinem Wort
für Conny
spät nachts im Bett schon denken:
heute wärst Du 60 geworden …
morgens aufwachen und denken:
heute wärst Du 60 geworden …
mittags einer Kollegin erzählen:
heute wärst Du 60 geworden …
nachmittags beim Tee erneut inne werden:
heute wärst Du 60 geworden …
abends beim Essen daran erinnern:
heute wärst Du 60 geworden …
spätabends eine Kerze anzünden für Dich:
heute wärst Du 60 geworden …
… und denken:
Stern, Du – was sind schon 60 Jahre?
heute wirst Du täglich ewig!

In seiner Form ist dieser Text inspiriert von „gedanken zerren“, dem Debüt-Gedichtband von Özlem Özgül Dündar, wobei ich die Form einerseits radikalisiert und andererseits aufgebrochen habe für eine Idee, die in mir gärte und die ich nun glaubte, mit diesem Format am besten umsetzen zu können. Das Potential dieser Form ist einfach klasse, weil diese gebrochene Sprache gleichzeitig so viel Ungesagtes mitschwingen lässt – eine echte Entdeckung!